„Zu viele Dinge nicht im Sinne der Menschen mit Behinderungen geklärt"

Verena Bentele, Beauftragte der Bundesregierung, fordert im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ Nachbesserungen im Bundesteilhabegesetz.

Verena Bentele ist Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen und zwölfmalige Paralympics-Siegerin im Skilanglauf. Foto: picture-alliance
Verena Bentele ist Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen und zwölfmalige Paralympics-Siegerin im Skilanglauf. Foto: picture-alliance

In der Debatte um das Bundesteilhabegesetz hat die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Verena Bentele, Nachbesserungen gefordert. „Es gibt noch zu viele Dinge, die nicht im Sinne der Menschen mit Behinderungen geklärt sind“, sagte Bentele, die frühere Skilangläuferin und zwölfmalige Paralympics-Siegerin, in einem Interview mit der Opens external link in new windowWochenzeitung „Das Parlament“ (Ausgabe 39 vom 26. September). So dürften Eingliederungsleistungen nicht an eine Erwerbstätigkeit gebunden sein. „Auch eine Rentnerin, die mit 70 Jahren erblindet, muss natürlich die Möglichkeit haben, zu lernen, wie sie sich orientieren kann“, so Bentele. Außerdem hoffe sie, dass im Laufe der parlamentarischen Beratungen die Regelung nachgebessert werde, wonach ein Mensch in fünf von neun Lebensbereichen eingeschränkt sein müsse, um Teilhabeleistungen zu erhalten. Auch das „Poolen“, also das nur gebündelte Anbieten von Leistungen für mehrere Betroffene, hält sie für problematisch. „Das darf nur mit Zustimmung der Betroffenen geschehen“, sagte sie. Das Interview im Wortlaut:

Frau Bentele, am Bundesteilhabegesetz ist jahrelang gearbeitet worden. Die Bundesregierung nennt es einen Paradigmenwechsel. Ist es das tatsächlich?

VERENA BENTELE: Mit dem Gesetz sind zweifellos wichtige Schritte gemacht worden. Zum Beispiel, dass es bundesweit ein Budget für Arbeit geben soll, um Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Oder, dass das Einkommen der Partner nicht mehr mit Eingliederungsleistungen verrechnet wird. Aber es ist bei einem solchen Gesetz auch wichtig, dass Menschen mit Behinderungen in ihrer besonderen Lebenssituation gesehen werden. Und da sollte sich noch etwas ändern.

Die Eingliederungshilfe wird aus der Sozialhilfe ausgegliedert und ins Neunte Sozialgesetzbuch „verschoben“. Warum ist es so wichtig, in welchem Sozialgesetzbuch sie verankert ist?

Einerseits soll dadurch die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Träger besser werden. Denn es gibt ja nicht nur die Eingliederungshilfe, sondern noch zahlreiche andere Leistungen. Andererseits darf ein Nachteilsausgleich für Menschen mit Behinderungen nicht gleich-gestellt werden mit der Sozialhilfe, sondern muss auf jeden Fall einen anderen Stellenwert haben.

Sehr viele Menschen mit Behinderungen benötigen aber die sogenannte „Hilfe zur Pflege“, für die weiter die strikten Vorgaben der Sozialhilfe bei der Vermögensanrechnung gelten. Werden damit unterschiedliche Kategorien von Betroffenen geschaffen?

Genau das ist das Problem. Außerdem darf es nicht passieren, dass Menschen künftig eher Pflegeleistungen bekommen und keine Teilhabeleistungen, weil die Pflege als vorrangig behandelt wird, so wie derzeit geplant. Denn Teilhabe geht weit darüber hinaus und es ist ein gewaltiger Unterschied, welche Leistungen sie bekommen. Auch dürfen Eingliederungsleistungen nicht an Erwerbstätigkeit gebunden sein. Eine Rentnerin muss, wenn sie mit 70 Jahren erblindet, natürlich die Möglichkeit haben zu lernen, wie sie sich orientieren kann.

Für Erwerbstätige soll es tatsächlich eine deutliche Verbesserung geben. Das Vermögen, das sie ansparen dürfen, ohne dass es mit den Unterstützungsleistungen verrechnet wird, steigt von jetzt 2.600 Euro auf schrittweise 50.000 Euro.

Das ist auf jeden Fall ein großer Schritt. Aber es kann nur ein erster Schritt dahin sein, dass wir irgendwann die Einkommens- und Vermögensgrenze ganz freistellen von Nachteilsausgleichen.

Für die Eingliederungshilfe soll man künftig nachweisen, in 5 von 9 Lebensbereichen erheblich eingeschränkt zu sein. Kritiker befürchten dadurch eine Einschränkung des leistungsberechtigten Personenkreises.

Das teile ich auch. Denn es ist für Menschen mit seelischen oder onkologischen Erkrankungen extrem schwer nachzuweisen, ob sie gerade in einem bestimmten Lebensbereich eine Einschränkung haben. Aber dann ist die Frage: Wer leistet für diese Menschen, wer ist der verantwortliche Träger? Wenn man also sagt, man möchte so eine 5-von-9-Definition, die ich aber nicht für nötig halte, dann braucht es dringend eine Regelung, wer für diese Menschen zuständig ist, wenn es nicht die Eingliederungshilfe ist. Bisher gibt es die nicht. Da wünsche ich mir, dass die konkrete Lebenssituation der Menschen gesehen wird und hoffe auf eine Änderung durch das Parlament.

Die Behinderten- und Sozialverbände kritisieren, dass es künftig am Ermessen des Trägers liegt, ob er Leistungen individuell gewährt oder nur für eine Gruppe anbietet. Könnte das bedeuten, dass Menschen zu gemeinschaftlichem Wohnen sozusagen „gezwungen“ werden.

Diese Befürchtung habe ich auch. Deshalb wäre für mich der richtige Weg, dass wir das „Poolen“ nur mit Zustimmung der Betroffenen erlauben. Natürlich gibt es Situationen, wo es sich anbietet. Aber beim selbständigen Wohnen geht das auf keinen Fall. Es darf nicht passieren, dass erwachsene Menschen mit Behinderungen nachts mit anderen in eine Wohnung müssen, weil nur dann eine Assistenzgemeinschaft existiert, die ihnen bestimmte Leistungen sichert.

Menschen mit Behinderungen sollen viel besser als bisher in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden, indem Firmen Lohnkostenzuschüsse bis zu 75 Prozent erhalten. Wird das funktionieren?

Es ist ein guter Ansatz, der funktionieren kann. Aber auch das ist auch nur ein erster Schritt. Nur allein deswegen werden nicht viele Firmen Menschen mit Behinderungen vermehrt einstellen. Die Herausforderung ist vor allem: Wie viele Menschen machen wirklich den Schritt aus den Werkstätten raus in den ersten Arbeitsmarkt und trauen sich, damit auch ein anderes Risiko einzugehen. Das muss sich erst noch zeigen.

Gesellschaftliche Teilhabe beginnt jedoch schon früher, bei der Integration der Kinder in Kitas und Schulen. Dabei zeigen Berichte von Betroffenen vor allem, dass die Hürden hier sehr hoch sein können.

Wir sind auf jeden Fall nicht da, wo wir sein wollen, weil die Unterschiede regional extrem hoch sind. Im Gegensatz zur Förderschule müssen sich die Eltern bei der inklusiven Schule um viel mehr Dinge selber kümmern, sie selber finanzieren. Das ist für viele eine riesige Herausforderung und auch Überforderung. Aber daran darf es am Ende nicht scheitern, ob wir die Inklusion in der Schule schaffen. Wir brauchen eine Regelung, die für alle Menschen in Deutschland, egal, wo sie wohnen, gleich zuverlässig ist. Wir können auch nur dann einen inklu-siven Arbeitsmarkt schaffen und gesellschaftliche Teilhabe sichern, wenn Kinder von Anfang an gemeinsam lernen.

Im Vorfeld des Gesetzes gab es einen sehr umfangreichen Beteiligungsprozess der Verbände. Es sollte nicht über, sondern mit den Menschen entschieden werden. Erkennen Sie diesen Prozess im Gesetzentwurf wieder?

Es war gut, dass es den gegeben hat. Aber natürlich hätten sich viele nach den vielen Anstrengungen und Bemühungen gewünscht, dass wir mehr Vorstellungen der Verbände in dem Gesetz wiederfinden. Das hätte ich mir auch gewünscht.

Also wundert es Sie nicht, dass der Protest doch noch so deutlich ist?

Nein, das wundert mich nicht. Natürlich ist klar, wenn so ein großes Gesetz auf den Weg kommt, gibt es viele Unsicherheiten. Aber es gibt noch zu viele Dinge, die noch nicht im Sinne der Menschen mit Behinderungen geklärt sind.

Vor der Sommerpause hat der Bundestag eine Neufassung des Behindertengleichstellungsgesetzes beschlossen, das die Barrierefreiheit von Bundesbauten festschreibt. Warum war dieses Gesetz so wichtig?

Ich finde, das war eines der wichtigsten Projekte. Denn damit wurde noch einmal eine umfassende Barrierefreiheit festgeschrieben. Es gibt nun eine Bundesfachstelle, die zu dem Thema berät und es wird bei mir eine Schlichtungsstelle geben, an die sich Menschen mit Behin-derungen und deren Verbände wenden können, wenn sie sich von Institutionen des Bundes diskriminiert fühlen. Damit wurden viele Dinge durchgesetzt, um die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu wahren. Der nächste wichtige Schritt muss sein, dass Allgemeine Gleich-behandlungsgesetz zu ändern, um auch im Bereich der Privatwirtschaft mehr Barrieren abzubauen.

(Quelle: Wochenzeitung "Das Parlament")


  • Verena Bentele ist Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen und zwölfmalige Paralympics-Siegerin im Skilanglauf. Foto: picture-alliance
    Verena Bentele ist Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen und zwölfmalige Paralympics-Siegerin im Skilanglauf. Foto: picture-alliance

News Suchergebnisse

Zweites Vorbereitungstreffen für das Olympische…
Deutsches und französisches Leitungsteam bilden Basis für enge Zusammenarbeit
10.11.2023
Ausschreibung für das Deutsch-Französische Olympische…
Bewerbung für Leitungsteam und Teilnehmende
05.07.2023
Faszination für das Olympische Jugendlager auch nach 34…
Nachtreffen der ehemaligen Teilnehmenden des Internationalen Olympischen Jugendlagers Seoul 1988 bei…
05.09.2022
Wiedersehen in München
Nachbereitungstreffen der Deutschen Olympischen Jugendlager Tokio 2020 und Peking 2022
25.05.2022
Viele tolle Momente trotz eines verkürzten Jugendlagers
Abbruch des Deutschen Olympischen Jugendlagers (DOJL) Peking 2022. Wegen auftretender…
18.02.2022
Von Wushu über eine Olympiasiegerin bis Human Rights…
In der zweiten Hälfte des DOJL stand zunächst das Gastgeberland China im Mittelpunkt. Aber auch…
18.02.2022
Virtuelle Fortführung: Digitales Programm des DOJL
Nach dem Ende der Präsenzveranstaltung in Bischofsgrün wird das Programm seit heute in reduziertem…
10.02.2022
Ende des Jugendlagers in Bischofsgrün - Fortführung in…
Das Deutsche Olympische Jugendlager (DOJL) Peking 2022 wird heute, am 9.2.2022, vorzeitig als…
09.02.2022
DOJL 2022: Programm am Dienstag 8. Februar
Tag 6 des DOJL: Auf dem Programm stehen eine Wanderung zur Skischule, eine Talkrunde mit der…
08.02.2022
DOJL 2022: Programm am Montag 7. Februar
5. Tag des DOJL: Highlights des Tages sind Eislaufen in Kulmbach, ein digitaler Austausch mit Lena…
07.02.2022
DOJL: Treffen mit DOSB-Präsidiumsmitgliedern
Olympische Symbolik, Austausch mit Mitgliedern des neuen DOSB-Präsidiums, Peking im TV und immer…
06.02.2022
DOJL 2022: Programm am Sonntag 6. Februar
Am dritten Tag des Deutschen Olympischen Jugendlagers Peking 2022 stehen das Gastgeberland und seine…
06.02.2022
DOJL 2022: Programm am Samstag 5. Februar
Nach Schneeballschlacht und Eröffnungsfeier gestern stehen heute die ersten Gesprächsrunden an:…
03.02.2022
DOJL 2022: Programm am Freitag 4. Februar
Zweiter Tag des DOJL: Heute steht nach dem morgendlichen Testen eine Vielfalt von Themen an - Sport,…
03.02.2022
DOJL 2022: Programm am Donnerstag 3. Februar
Heute fällt der Startschuss für das Deutsche Olympische Jugendlager 2022. Die Jugendlichen reisen am…
03.02.2022
Bayern statt Peking
Das Deutsche Olympische Jugendlager (DOJL) mit 40 Teilnehmer*innen aus ganz Deutschland findet nicht…
02.02.2022
DOJL 2022: Die Vorbereitung geht in die heiße Phase
Am 17. und 18. Dezember fand das virtuelle Vorbereitungstreffen für die Teilnehmer*innen am…
21.12.2021
DOJL 2022: Der Veranstaltungsort steht fest 
Das Deutsche Olympische Jugendlager (DOJL) findet vom 3. bis 13. Februar 2022 in Bischofsgrün im…
07.12.2021
Erstes Arbeitsreffen des Leitungsteams
Trotz aller Unwägbarkeiten in den kommenden Monaten: Das Organisationsteam des DOJL Peking 2022 ist…
22.11.2021
Kein Deutsches Olympisches Jugendlager in Beijing2022
Auch bei den Olympischen Winterspielen 2022 in Peking wird es vor Ort kein Deutsches Olympisches…
15.10.2021
Datum News
10.11.2023 Zweites Vorbereitungstreffen für das Olympische Jugendlager 2024 Weiterlesen
05.07.2023 Ausschreibung für das Deutsch-Französische Olympische Jugendlager Paris 2024 Weiterlesen
05.09.2022 Faszination für das Olympische Jugendlager auch nach 34 Jahren ungebrochen Weiterlesen
25.05.2022 Wiedersehen in München Weiterlesen
18.02.2022 Viele tolle Momente trotz eines verkürzten Jugendlagers Weiterlesen
18.02.2022 Von Wushu über eine Olympiasiegerin bis Human Rights Watch Weiterlesen
10.02.2022 Virtuelle Fortführung: Digitales Programm des DOJL Weiterlesen
09.02.2022 Ende des Jugendlagers in Bischofsgrün - Fortführung in digitaler Form Weiterlesen
08.02.2022 DOJL 2022: Programm am Dienstag 8. Februar Weiterlesen
07.02.2022 DOJL 2022: Programm am Montag 7. Februar Weiterlesen
06.02.2022 DOJL: Treffen mit DOSB-Präsidiumsmitgliedern Weiterlesen
06.02.2022 DOJL 2022: Programm am Sonntag 6. Februar Weiterlesen
03.02.2022 DOJL 2022: Programm am Samstag 5. Februar Weiterlesen
03.02.2022 DOJL 2022: Programm am Freitag 4. Februar Weiterlesen
03.02.2022 DOJL 2022: Programm am Donnerstag 3. Februar Weiterlesen
02.02.2022 Bayern statt Peking Weiterlesen
21.12.2021 DOJL 2022: Die Vorbereitung geht in die heiße Phase Weiterlesen
07.12.2021 DOJL 2022: Der Veranstaltungsort steht fest  Weiterlesen
22.11.2021 Erstes Arbeitsreffen des Leitungsteams Weiterlesen
15.10.2021 Kein Deutsches Olympisches Jugendlager in Beijing2022 Weiterlesen